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Militarisierte Landschaften

‚maria‘ in: Feierabend,#52, September 2014

  • In Deutschland wie auch global nehmen die Proteste gegen Militärbasen wieder zu. Zum dritten Mal fand im August 2014 ein Aktionscamp gegen das Gefechtsübungszentrum des Heeres (GÜZ) in der Colbitz-Letzlinger Heide statt, zuvor protestierten Tausende auf Sizilien gegen die Satellitenanlage MUOS der US-Army. Zum Globalen Aktionstag gegen die Nutzung von Drohnen für Krieg und Überwachung am 4. Oktober 2014 sind alleine in Deutschland Aktionen und Kundgebungen an mindestens sieben Militärstandorten und Forschungseinrichtungen angekündigt. Doch auch jenseits von Bündnissen und Aktionstagen bieten sich Ausflüge zu solchen Liegenschaften an, um aktuelle und vergangene Formen der Kriegführung subjektiv erfahrbar zu machen. An diesen verknüpfen sich zudem lokale, soziale Auseinandersetzungen mit der großen, oft nur abstrakt kritisierbaren Geopolitik – so zumindest ein im Entstehen begriffener wissenschaftlicher Ansatz.

Vernetzte Kriegführung

Zugespitzt ist jeder Mobilfunkmast Teil jener Infrastruktur, mit der Profile erstellt werden, die letztlich zur „gezielten Tötung” von Menschen in Pakistan oder Somalia führen. Solche Bewegungsprofile werden in den USA und im Umfeld des US-Oberkommandos für Afrika (AfriCom) bei Stuttgart mit öffentlichen und geheimdienstlichen Daten abgeglichen, und letztlich fällt hier, irgendwo in Deutschland, die Entscheidung über den Waffeneinsatz einer zuvor bereits in Djibouti gestarteten, bewaffneten Aufklärungsdrohne.

Noch bevor dies auch durch den öffentlich- rechtlichen Rundfunk bekannt gemacht wurde, begann eine internationale, gerade in Deutschland sehr sichtbare Kampagne mit dem Namen „War starts here“ – Krieg beginnt hier. Ein rosafarbenes Kreuz an Rüstungsbetrieben, anderen Institutionen und Unternehmen, die mit der Bundeswehr zusammenarbeiten, wurde zu ihrem Symbol. Doch auch Brandanschläge auf Bundeswehrfahrzeuge und Sprühereien gegen die Post-Tochter DHL, nachdem sich diese um die Privatisierung der Basislogistik der Bundeswehr beworben hatte, bezogen sich auf die Kampagne.

Mittlerweile zum dritten Mal fand diesen Sommer unter dem Titel „War starts here“ ein Protestcamp in der Nähe des Gefechtsübungszentrum in der Colbitz- Letzlinger Heide statt, wo alle Soldaten des Heeres trainieren, bevor sie im Ausland, wie etwa in Afghanistan eingesetzt werden. Im Gegensatz zu der Demonstration zum zehnten Jahrestag des Beginns des Afghanistankrieges im Dezember 2011 in Bonn, die von den meisten Teilnehmenden als klein und frustrierend wahrgenommen wurde, entwickelte das Camp mit dem expliziten Ziel, den Übungsbetrieb und damit die Kriegsvorbereitungen zu stören, eine starke Dynamik. Auch an verschiedenen Universitäten, dem Flughafen Halle/ Leipzig, dem AfriCom bei Stuttgart und den Luftlagezentren Kalkar und Uedem am Niederrhein wachsen die Widerstände gegen konkrete Orte der Kriegsvorbereitung und -führung.

Geopolitik und soziale Auseinandersetzungen

Die politische Wissenschaft hat die Militarisierung der internationalen Beziehungen lange ganz im Sinne herrschender Ideologieproduktion negiert oder humanitär zu begründen versucht. In jüngster Zeit sind allerdings Publikationen erschienen und ist ein Ansatz am Entstehen, der die genannten Entwicklungen der Lokalisierung nicht nur wahrnimmt, sondern auch in Teilen zu erklären und fundieren vermag. Das Charmante und womöglich wirklich Produktive besteht dabei darin, dass Geopolitik mit unmittelbaren sozialen Kämpfen in Zusammenhang gesetzt wird – und den letzteren, zumindest bezogen auf Militärbasen, einen deutlich größeren Stellenwert eingeräumt wird, als man angesichts einer überwältigenden, unaufhaltsam scheinenden Kriegsmaschinerie annehmen mag.

So hat Amy Austin Holmes(1), deren Arbeit u.a. von Beverly Silver(2) betreut wurde, den Widerstand gegen US-Militärbasen in Deutschland und der Türkei seit 1945 untersucht. Im Gegensatz zu früheren Imperien, die hierfür besetzte Gebiete und Protektorate nutzten, baue das US-amerikanische auf ein weitläufiges Netzwerk von Basen in (je nach Zählweise bis zu 170) – zumindest formal – souveränen Staaten. Statt militärischer Niederlage und Zwang sind internationale Verträge Grundlage der Stationierungen, die sich wiederum auf einen Diskurs stützen, wonach diese Staaten von den Stützpunkten profitieren, indem sie dadurch unter einen Schutzschirm der Militärmacht USA genommen und vor Invasionen und inneren Umstürzen geschützt werden. Wenn jedoch die gesellschaftlich wahrgenommene Bedrohung abnimmt oder ganz verschwindet, treten plötzlich die negativen Folgen der Stützpunkte für Umwelt, Umfeld, Wohnungs- und Arbeitsmarkt deutlicher zutage und Protest formiert sich. Dieser habe sowohl in der Türkei wie auch in Deutschland vier verschiedene Formen angenommen: (a) parlamentarische, indem kleinere Oppositionsparteien den Abzug forderten; (b) gewaltfreie, etwa durch Blockaden von Stützpunkten durch An wohner_innen oder spontane Proteste nach Zwischenfällen; (c) militante, in Form von Anschlägen auf Personal und Einrichtungen der US-Streitkräfte und (d) Arbeitskämpfe durch zivile Angestellte im Umfeld der Basen. Besonders die gewaltfreien Proteste und Arbeitskämpfe hätten nach Holmes durchaus geopolitische Wirkung entfaltet.

Die US-Militärplaner_innen können nach Holmes die Natur und Ursache dieser Widerstände nicht wahrnehmen und verstehen – ihr auf militärische Feinde fokussierender, an globalen Strategien orientierter Blick lässt das offenbar nicht zu. Deshalb bestünden auch kaum Lösungsstrategien und mittelfristig sei zu beobachten, dass sie sich dem Protest fügen, in andere Regionen abwandern. Die angekündigte Verschiebung des Schwerpunkts US-amerikanischer Truppenstationierung von Europa nach Asien (wo die Bedrohung durch China und Nordkorea gesellschaftlich stärker wahrgenommen wird, als diejenige durch Russland in Europa) mag hierfür ebenso ein Indiz sein wie der Rückgriff auf kleinere, nur sporadisch genutzte – häufig als private Unternehmen getarnte – Basen in Regionen mit jüngerer Kolonialgeschichte, in Lateinamerika und Asien. Die Struktur der US-Militärpräsenz in Afrika scheint dem durchaus zu entsprechen: Führungsstrukturen und Einsatzkräfte sind dauerhaft in Süddeutschland und den USA stationiert (wo gegenwärtig ebenfalls der Protest insbesondere gegen die Drohnenkriegführung wächst) und führen regelmäßig in ausgewählten afrikanischen Staaten gemeinsame „Übungen“ und Einsätze durch. Dafür nutzen sie Flughäfen „ziviler“ Subunternehmen der US-Army oder geheime Stützpunkte des CIA. Was Holmes leider nicht explizit einbezieht, in Deutschland aber ein wachsendes Problem darstellt, sind die Mobilisierungen rechter Gruppen gegen US-Basen mit dem Argument, Deutschland müsse vom Besatzungsstatus wieder zur vollständigen Souveränität, womöglich sogar in den Grenzen vor 1945/1989, zurückfinden.

Militärische Landschaften

Parallel dazu entsteht in den geographischen Wissenschaften gegenwärtig ein Ansatz zu militärischen/militarisierten Landschaften. Dieser nimmt die Rolle des Militärischen für die Konfiguration des Raumes in den Blick, von Erinnerungsstätten und Soldat_innengräbern über einzelne Rüstungsbetriebe und Militärbasen und deren Auswirkungen aufs städtische und ländliche Umfeld bis hin zur weitläufigen Anordnung solcher Stützpunkte. Das Interessante an diesem Ansatz ist nicht nur, dass etwa Rachel Woodward, eine der Protagonistinnen eines entsprechenden Forschungsprogrammes, lange (und bezeichnenderweise) fehlende wissenschaftliche Definitionen für Begriffe wie „Militär“ und „Militarisierung“ entwickelt und anbietet(3), sondern dass sich als Methode die militante, also eingreifende Untersuchung geradezu aufdrängt.

So ist bereits das Benennen der militärischen Funktion eines Stützpunktes, eines privaten Unternehmens oder einer öffentlichen Institution ein Akt mit Folgen für diese Einrichtungen und ihre Legitimität. Eine wissenschaftliche, als Hobby oder Aktivismus durchgeführte Untersuchung solcher Orte durchbricht per se die Aura der Geheimhaltung, das von den Betreiber_innen beanspruchte Deutungsmonopol und das rechtlich wie praktisch nicht durchsetzbare, auf Schildern aber häufig proklamierte Betretungsund Fotografieverbot. Die Befragung der Anwohnenden über Auswirkungen, persönliche Gefährdung durch und Wissen über die globale Funktion der Einrichtungen wirft bei diesen womöglich ganz neue Fragen auf. Vor allem aber stellen solche Untersuchungen eine Form der intellektuellen Selbstverteidigung gegen die naturgemäß starke Verzerrung der Wahrnehmung gegenwärtiger Kriegführung dar.

Vorschlag zur aktivistischen Psycho-Geografie

Statt in der Freizeit an den See zu fahren oder fernzusehen, wird hier also der Vorschlag gemacht, Ausflüge an konkrete Orte der Kriegführung zu machen. Der nächste Truppenübungsplatz, der nächste Rüstungsbetrieb oder die nächste Fakultät, an der Kriegsforschung betrieben wird, ist von den meisten Punkten in Deutschland mit Fahrrädern oder dem öffentlichen Nahverkehr zu erreichen. Kennzeichen und Typen der Autos auf Firmenparkplätzen, die Aushänge in Universitätsfluren und die Anordnung von Basen im städtischen oder ländlichen Raum lassen Krieg und seine kapillaren Ausformungen neu erfahrbar werden.

Wer im Freundeskreis und der Nachbarschaft dann von diesen Ausflügen erzählt, macht oft die Erfahrung, dass viel weiteres verstreutes Wissen über militärische Einrichtungen existiert und plötzlich zutage tritt: Es gibt Informationen über jenen Bunker im Wald und die Aktivitäten bestimmter Firmen. Fast schon lückenlos wird die mentale Karte militarisierter Landschaft, wenn die historische Komponente einbezogen wird: Verwaltungsgebäude und Wohnprojekte sind ehemalige Kasernen, in Kirchen und an öffentlichen Plätzen finden sich Gefallenendenkmäler mit sehr unterschiedlichen Inschriften aus unterschiedlichen Zeiten. Letztlich lassen sich die meisten Städte dechiffrieren – wie das schon 2005 eine Arbeitsgruppe des AStA der Uni Kassel versuchte (4) – von den Resten der Stadtmauer und anderen Festungsanlagen über die Bauten, die nach dem zweiten Weltkrieg auf den Trümmern bombardierter Fabriken entstanden, die Bunker aus der Zeit des „Kalten Krieges“ bis hin zu Forschungszentren, Zulieferbetrieben und Flughäfen am Stadtrand als „gebauter Krieg“.

Einige aktuelle Tendenzen der Kriegführung werden unmittelbar erfahrbar. Darunter die sogenannte Zivil-Militärische Zusammenarbeit und die weit gediehene Privatisierung: Zahllose zivile Baufirmen sind auf den Stützpunkten aktiv und sichtbar, die IT wird von privaten Firmen gewartet. Manche Stützpunkte, an deren weitläufigem Zaun im Wald noch vor „Schusswaffengebrauch“ gewarnt wird, stellen sich am Haupteingang lediglich als Sitz einer GmbH dar. Aktuelle und neue Stützpunkte offenbaren darüber hinaus häufig die herausragende Bedeutung der sogenannten C3I: Kommando, Kontrolle, Kommunikation und Aufklärung (5), die eine wesentlich verteiltere/vernetztere Struktur der Streitkräfte ermöglichen. Neben diesen vermeintlichen Revolutions in Military Affairs (RMA) (6), welche die Beschleunigung von Aufklärung und Kommunikation als entscheidenden zu erringenden Vorteil gegenüber den Gegnern erachten, zeigen sich aber auch geradezu banale, scheinbar zeitlose Erscheinungen, wie die anhaltende Bedeutung und Nutzung des Waldes als Barriere und Sichtschutz gerade für sensiblere Bereiche von Standorten.

Der Wald, der vielleicht sonst eher Ruhe und Natürlichkeit vermittelt, kann plötzlich bedrohlich wirken, wenn ein Pickup-Truck mit bewaffneten Jägern (oder Spezialkräften in Zivil?) plötzlich neben einem auftaucht, während man ein Gelände inspiziert und sich an die Worte eines Wachsoldaten erinnert, der warnte: „es ist im engeren Sinne nicht rechtlich verboten, das Gelände zu betreten, aber sie könnten erschossen werden“. Dann fährt plötzlich eine Familie beim Fahrradausflug gut gelaunt den ausgeschilderten Radweg entlang und alles wirkt wieder ganz harmlos.

Neben Erkenntnissen locken also auch kleine Abenteuer, harmloser als eine Fernsehdokumentation, aber unmittelbar, ungefiltert und subjektiv. Natürlich, und das sollte hier ausdrücklich gesagt werden, droht auch die Paranoia. Wie bei anderen Karten auch ist das Militärische nur eine Folie von vielen, die die Wahrnehmung des Raumes strukturieren können, und darüber sollte man sich im Austausch mit anderen immer wieder verständigen. Oder einfach mal wieder eine Fahrradtour an den See machen. maria


(1) Amy Austin Holmes: „Social Unrest and American Military Bases in Turkey and Germany since 1945“, Cambridge University Press 2014.

(2) Beverly Silver vertritt in ihrem vielbeachteten Buch „Forces of Labour“ (Kräfte der Arbeit) die operaistische Auffassung, dass das Kapital nicht immer bessere Ausbeutungsbedingungen sucht und schafft, sondern von Arbeitskämpfen um den Globus getrieben wird. In Anlehnung könnte man Holmes zugespitzt so interpretieren, dass die Streitkräfte der US-Army von Protesten über den Globus getrieben werden.

(3) Rachel Woodward: „Military landscapes – Agendas and approaches for future research“, in: Progress in Human Geography 2014, Vol. 38(1) 40–61.

(4) Lola Meyer: „Die Suche nach dem Krieg in Architektur und Städtebau am Beispiel Kassels“, Universität Kassel 2006.

(5) C3I (Control Command Communication Intelligence) ist eine militärische Abkürzung, die die verschiedenen Ebenen bezeichnet, mit deren Hilfe das Militär Aktionen plant und durchführt.

(6) Revolution in Military Affairs (dt. Revolution der militärischen Angelegenheiten) ist eine These aus der amerikanischen Militärwissenschaft, die besagt, dass sich die Art der Kriegsführung aufgrund von neuen Strategien,Taktiken oder Technologien (z.B. Drohnen) ändert.