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Den Krieg in der Ukraine stoppen – eine neue anti-Kriegsbewegung aufbauen

Ein Aufruf der Interventionistischen Linken [IL*]

3. März 2022

Es herrscht Krieg in Europa. Die Macht der Bilder hält uns in Atem. Nervös starren wir auf unsere Smartphones, sehen verwackelte Videos aus den Kriegsgebieten, verfolgen wütend und traurig die Nachrichten, bis spät in die Nacht. Ungläubig sehen wir zu, was in der Ukraine und in Russland geschieht – und hier bei uns, in deutschen Parlamenten, auf den Straßen, in den Medien und Talkshows. Was können, was sollen, was müssen wir denken und tun in dieser Situation?
Als Interventionistische Linke erscheinen uns die folgenden Punkte zentral.

GEGEN DEN KRIEG UND SEINE FALSCHEN ALTERNATIVEN
Der brutale Überfall der russischen Armee auf die Ukraine ist durch nichts zu rechtfertigen und aufs Schärfste zu verurteilen. Wir sind für einen sofortigen Waffenstillstand und einen Rückzug der russischen Truppen. Der Angriffskrieg folgt dem Befehl Putins, dessen Präsidentschaft schon seit Jahren auf gewalt- voller Männlichkeit, autoritärer Herrschaft und imperialer Ausdehnung beruht. Vergessen wir nicht, dass Putin damit in Deutschland und Europa lange Zeit ein gern gesehener Gast und Geschäftspartner war. Es ist richtig, gegen Putin, seine Militärs und gegen die neoliberalen Oligarchen zu sein, die ihn stützen.

Müssen wir deshalb für »die« Ukraine oder gar »den« Westen sein? Nein, denn wir können die Parteilichkeit für eine der Kriegsparteien zurückweisen. Wir lehnen die falschen Alternativen ab, weil die behauptete Alternativlosigkeit jeden Raum für Wider- sprüche und Kritik verschließt. Wo Wladimir Selenski und die Klitschko-Brüder als demokratische Helden gelten, wo faschistische Verbände in der ukrainischen Armee mit NATO-Waffen ausgerüstet werden und wo die ukrainische Nationalflagge als Symbol für Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit herhalten muss, dort versagen wir unsere Gefolgschaft. Wir entziehen uns der Identifikation mit staatlicher Macht. Stattdessen sind wir mit jenen parteilich, die unter dem Krieg leiden und sich ihm widersetzen, in der Ukraine, in Russland und überall. Die Menschen tun dies auf vielfältige Weise und nehmen dabei unterschiedliche Risiken in Kauf, wenn sie fliehen, desertieren, zivilen Ungehorsam leisten oder kämpfen.
Wer sind wir, von hier darüber zu urteilen?

SOLIDARITÄT MUSS PRAKTISCH WERDEN: KONKRETE UNTERSTÜTZUNG JETZT
Die bedingungslose Identifikation mit dem ukrainischen Staat zurückzuweisen bedeutet nicht, es an Solidarität und Empathie für die Betroffenen dieses Krieges mangeln zu lassen. Im Gegenteil: Statt richtiger, aber letztlich wirkungsloser Solidaritäts- bekundungen braucht es konkrete Unterstützung für die Menschen vor Ort – besonders für jene, die von den Staaten und Regierungen nicht unterstützt werden: Menschen, die aufgrund ihrer Hautfarbe und Herkunft als Flüchtende zweiter Klasse gelten, Kriegsdienst- verweigerer und Friedensaktivist*innen aus der Ukraine und aus Russland, Frauen und LGBTQI.
Und unsere Genoss*innen der sozialen, linken, sozialistischen und anarchistischen Bewegungen, die in der Ukraine mitten im Krieg Support- und Versorgungsnetzwerke aufbauen und die in Russland trotz massiver Repression mutig gegen den Krieg und Putin protestieren.
Sie alle brauchen dringend unsere praktische Solidarität. Offene Grenzen für Alle, konkrete Fluchthilfe und finanzielle Unterstützung – zum Beispiel durch die Spendenkampagne »International! Anti-War! Solidarity!« der Anti-Rep-Soli-Wien/ Gruppe Zinnoberrot.

NICHT VERGESSEN: KAPITALISTISCHE GEOPOLITIK UND WESTLICHE DOPPELMORAL
Auch wenn wir für uns selbst versuchen, die aktuelle Situation nicht in den Kategorien staatlicher Macht und Geopolitik zu denken: Wir müssen sie verstehen, denn es sind eben diese Kategorien, die das praktische Handeln der Regierenden bestimmen. Nicht umsonst ist der aktuelle Krieg nur der vorläufige negative Höhepunkt von weltweit immer schärfer werdenden wirtschaftlichen, politischen und militärischen Konflikten. Die niedergehende US-Hegemonie vor Augen und die ökologisch-ökonomische Krise des Kapitals im Rücken, kämpfen Staaten und imperiale Blöcke um Einfluss und ihre Stellung in der neuen Weltunordnung. Russland unter Putin tut dies seit Jahren, ebenso China, Indien und andere – genauso die NATO, die Europäische Union und Deutschland. Dies zu erinnern bedeutet nicht, Putins Angriffskrieg in der Ukraine zu verharmlosen oder gar zu recht- fertigen. Aber es macht die Doppelmoral deutlich, die hinter der Empörung westlicher und deutscher Politiker*innen über Putins Vorgehen steckt. Der Jugoslawienkrieg, der Angriffskrieg des NATO- Mitglieds Türkei in Nord-Ost-Syrien, die NATO- Osterweiterung und die ökonomische Expansions- politik der EU, die tödlichen Grenzen der Festung Europa – plötzlich alles vergessen. Dagegen müssen wir ankämpfen. Wir müssen in Erinnerung rufen, dass die (Un-)Ordnung kapitalistischer Konkurrenz, imperi- aler Macht und nationaler Grenzen letztlich immer auf Gewalt beruht. Echten, dauerhaften Frieden kann es im globalen Kapitalismus nicht geben, auch in Europa nicht.

UNSERE VERANTWORTUNG: DENBURGFRIEDEN STÖREN, DIE AUFRÜSTUNG STOPPEN
Nicht nur der Ukraine-Krieg selbst, sondern auch die Reaktionen darauf haben unsere Gesellschaft in einen Ausnahmezustand versetzt. Im Windschatten der Ereignisse hat die Ampelkoalition in Berlin mit ihrem 100-Milliarden-Paket für die Bundeswehr eine beispiellose Aufrüstung auf den Weg gebracht. Diese hilft der Ukraine im aktuellen Krieg überhaupt nicht, sondern zielt allein darauf ab, Deutschlands Stellung im internationalen Machtgefüge zu stärken und die EU bzw. die NATO militärisch handlungsfähiger zu machen. Politiker*innen, Journalist*innen und Wissenschaftler*innen überbieten sich in der Abrechnung mit friedenspolitischen Grundsätzen und Lobesreden auf das, was zum sicherheitspolitischen Erwachen Deutschlands und Europas verklärt wird. Manche plädieren gar offen für eine direkte militärische Intervention oder schließen sie zumindest nicht völlig aus, um die »westlichen Werte« in der Ukraine zu verteidigen.
Keine Frage: Hier ist etwas ins Rutschen geraten. Wir wissen noch nicht, wohin dieser deutsch-europäische Aufrüstungstaumel führen wird. Aber wir wissen, dass er gefährlich ist. Nach außen, weil er die Gefahr einer weiteren militärischen Eskalation und zukünftiger Kriege erhöht. Und nach innen, weil er Aufmerksam- keit und Mittel ablenkt von den dringend notwendigen Kämpfen gegen Klimakrise, Rassismus, Pflegenotstand oder Mietenwahnsinn. Gefährlich aber auch deshalb, weil die Militarisierung unsere Gesellschaft als Ganz- es, unser Denken und unsere Art zu Leben, verändern wird. Deshalb müssen wir uns der Aufrüstung, auch der rhetorischen, entgegenstellen, mit allem, was wir haben. Das ist unsere Verantwortung hier. Niemand kann sie uns abnehmen.

AKTIV WERDEN: EINE BEWEGUNG GEGEN MILITARISMUS UND KRIEG AUFBAUEN
Vor acht Jahren, im Frühjahr 2014, fanden anlässlich der russischen Annexion der Krim in Deutschland schon einmal Antikriegsdemonstrationen zur Ukraine statt. Ein Kommentar, in dem wir als Interventionistische Linke unsere Überlegungen zum damals so genannten »Ukrainekonflikt« zur Diskussion stellte, endete wie folgt: »Das Eskalationspotenzial, das in der Ukraine zeitweise ein Hineinschlittern in eine direkte militärische Konfrontation zwischen NATO und Russland möglich werden ließ, zeigt uns aber unverkennbar, was wir zu tun haben, was von uns gefordert wird und wir von anderen fordern können:
Beginnen wir gemeinsam mit dem Aufbau einer leb- endigen, linken und internationalistischen Bewegung gegen Militarismus und Krieg. Die Zukunft unserer Proteste könnte davon abhängen.«
Diese Aufforderung ist heute aktueller denn je. Sie mit Leben zu füllen, wird die Aufgabe der kommenden Monate sein. Die Chancen stehen gut: Hundert- tausende sind in Solidarität mit der Ukraine auf die Straße gegangen. Nicht alle von ihnen sind für friedenspolitische Argumente empfänglich, viele aber schon. Die Aufrüstungspläne der Bundesregierung finden in der Klimagerechtigkeitsbewegung einen neuen, starken Gegner. Und mit dem Bündnis Rheinmetall Entwaffnen gibt es einen Akteur, der schon seit einigen Jahren erfolgreich Proteste gegen Krieg, Aufrüstung und Militarisierung organisiert.

Machen wir auf der Straße sichtbar, dass Aufrüstung und Militarisierung keine Lösung, sondern das eigentliche Problem sind. Beteiligen wir uns an den anstehenden Mobilisierungen der Antikriegs- und Klimagerechtigkeitsbewegung. Bringen wir zusammen, was zusammengehört: die Kämpfe gegen alle Grenzen, gegen Imperien und Kriege, gegen Klima- krise, Patriarchat und Kapitalismus.
Militarisierung ist keine Solidarität. Für ein Ende der Gewalt!

Interventionistische Linke, März 2022